Stress gehört zum Leben. Wer nie Stress hat, ist wahrscheinlich tot. Und Stress ist auch nicht schlimm, solange wir Zeit haben uns wieder zu regenerieren. Die haben wir aber oft nicht und Dauerstress wirkt sich negativ auf unsere Gesundheit aus. Dann muss man entweder bewusst gegensteuern – oder Stress neu definieren. Und hier kommen Adaptogene ins Spiel. Sie sind Heilpflanzen, die die besondere Eigenschaft haben, unsere Stressresilienz zu erhöhen und uns belastbarer und ausdauernder zu machen, in jeder Beziehung, ganz gleich, welcher Art von Stress wir ausgesetzt sind.
Was sind Adaptogene?
Gemäß einer aktuellen Definition sind Adaptogene natürliche Substanzen, die in der Kräutermedizin zur Normalisierung und Regulierung der Körpersysteme verwendet werden. Sie müssen drei Voraussetzungen erfüllen:
- unspezifisch wirken und den Körper dabei unterstützen, einer Vielzahl von widrigen Bedingungen standzuhalten.
- die Homöostase erhalten.
- unschädlich sein.
Unabhängig von der Art des Reizes, dem Stressor, steigert ein Adaptogen die Anpassungsfähigkeit, Widerstandsfähigkeit und Überlebensfähigkeit,
indem es bestimmte adaptive Signalwege aktiviert.
Adaptogene stellen eine eigene Kategorie von Nahrungs- und Kräuterarzneimitteln dar, die für gute Gesundheit, Anpassungsfähigkeit, Widerstandsfähigkeit, das Überleben allgemein und gesundes Altern unerlässlich sind.
Es gibt tatsächlich eine Reihe Heilpflanzen, auf die diese Kriterien zutreffen. Die stammen in der Regel aus Fernost. Schließlich haben Adaptogene dort eine lange Tradition. Aber sicher gibt es auch in Europa Pflanzen mit adaptogenen Eigenschaften. Brennnesseln sollen adaptogen sein. Das kann gut sein, mit all den positiven Eigenschaften, die man ihnen nachsagt. Aber über westliche Adaptogene findet man in der wissenschaftlichen Literatur so gut wie keine Informationen.
Geschichte der Adaptogenen
Im zweiten Weltkrieg verhalfen Extrakte von Schisandra chinensis sowjetischen Kampfpiloten zu besseren Leistungen, auch wenn die Kräfte nach langen Einsätzen schon nachließen. Ein interessantes Phänomen, das man eifrig weiter verfolgte. Die Pflanze kannte man, weil schon Ende des 19ten und Anfang des 20ten Jahrhunderts russische Forscher herausfanden, dass sie Hunger, Durst und Erschöpfung mildern kann und obendrein noch die Nachtsicht verbessert.
In den 1960er und -70er Jahren forschten die Russen dann an Heilpflanzen, mit belebender, verjüngender Wirkung, die man in Fernost zur Behandlung verschiedener Erkrankungen nutzte. Mit Präparaten aus diesen Pflanzen erzielten man hervorragende Erfolge Beim Militär, im Sport und in der Raumfahrt. Den Begriff „Adaptogen“ prägte ein sowjetischer Toxikologe im Jahr 1958.
Aber im Wirklichkeit sind Adaptogene eine uralter Hut. Sie haben ihre Wurzeln in der jahrtausendealten ACM – Ancient Chinese Medicine. Das ist unter anderem der Vorläufer der TCM, der traditionellen chinesischen Medizin in China, von Kampo aus Japan und Ayurveda aus Indien.
Adaptogene in der TCM
Die Traditionelle Chinesische Medizin implementiert das Konzept von Yin und Yang, zwei widersprüchliche Kräfte mit entgegengesetzter Polarität, die sich gegenseitig zu einem dynamischen System ergänzen, das sogar in der Gemeinschaft den einzelnen Komponenten noch überlegen ist. Dieses wunderbare Konzept trifft perfekt auf lebende Zellen oder Organismen zu. Dieses Konzept gibt es auch in der westlichen Medizin. Es heißt Homöostase.
In der TCM geht man davon aus, dass ein Übermaß an emotionaler Aktivität ein Ungleichgewicht zwischen Yin und Yang erzeugt, also die Homöostase.
Das Ergebnis ist eine Blockade der Lebensenergie Qi und mit einer Störung lebenswichtiger Organfunktionen.
Dieser Zustand nennt sich „shanghuo“ und ist durch eine abnehmende Widerstandsfähigkeit und zunehmende Empfindlichkeit gekennzeichnet. Das ist Stress und macht krank. Das kenne wir auch und dieser Zustand ist in unserer Sichtweise durch stille Entzündungen gekennzeichnet, die wir ja fast immer haben, und die als Ursache vieler Zivilisationskrankheiten gehandelt werden.
Shanghuo, als Folge von emotionalem Stress, kann viele typisch westliche Krankheitsbilder nach sich ziehen: Schlafstörungen, Depressionen, Anfälligkeit für Infektionskrankheiten, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs.
Also immer schön in Homöostase bleiben und shanghuo vermeiden. Und hier kommen die Heilpflanzen ins Spiel, die wir als Adaptogene kennen. Sie stabilisieren und erhalten das Gleichgewicht von Yin und Yang und lassen die Lebensenergie Qi fließen.
Wie wirken Adaptogene?
Adaptogene fördern die Ausschüttung verschiedener Hormone, die Schlüsselrollen in der Aufrechterhaltung der Homöostase spielen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind das stressbedingte Störungen, wie chronische Müdigkeit, Gedächtnisstörungen, Depressionen, Angststörungen, Schlafstörungen, chronischeh Entzündungen, Autoimmunerkrankungen, Diabetes, Leber- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs.
Physiologisch verbirgt sich dahinter immer dasselbe Konzept: Stress, der die Homöostase stört.
Eine Stressreaktion besteht aus drei Phasen. Der Alarmphase, in der der Körper auf den Stressor reagiert und Stresshormone freisetzt, der Widerstandsphase, in der der Körper versucht, sich anzupassen und zu bewältigen, und der Erschöpfungsphase, in der die körperlichen und psychischen Ressourcen aufgebraucht sind.
Und eine Zelle befindet sich immer in einem von drei Zuständen. Der Homöostase, also keinem Stress, oder Stress, der entweder in Erholung ausgeht, dann ist nochmal alles gutgegangen, oder Stress, der die Zelle in die Apoptose führt. Das ist schlecht, denn Apoptose tötet die Zellen und wir können nicht uneingeschränkt neue bilden, denn wir benötigen dafür Stammzellen, die irgendwann aufgebraucht sind. Also ist es gut, Stress entweder ganz zu vermeiden oder wenigstens zu verhindern, dass die Zelle daran zerbricht.
Adaptogene verbessern die Stressresistenz

Die drei Phase der Stressreaktion, nach Panossian, A., & Wikman, G. (2010), verändert. Unter der Einwirkung von Adaptogenen (grüne Kurve) fällt die Stressreaktion schwächer aus, die Belastung in der Widerstandsphase ist weniger stark, die Erschöpfungsphase entfällt im Idealfall oder tritt später ein als ohne (rote Kurve).
Hans Seyle beschrieb das Phänomen 1936 als Modells des Allgemeinen Anpassungssyndroms (GAS): Wiederholte geringe Dosen von Stress führen dazu, dass die Stressresistenz steigt. Diese Anpassung verbessert die Überlebenschancen. Stress an sich ist nicht negativ, sondern ein notwendiger Anpassungsmechanismus.
Adaptogene sind milde Stressoren, die helfen sich anzupassen. Sie erzeugen Stress quasi im Leerlauf und die Zelle kann schonmal üben und hält im Ernstfall besser durch.
Verschiedene Stressoren (Umweltfaktoren wie Hitze oder Strahlung, Giftstoffe, körperliche Aktivität, Ernährung, Medikamente, Gehirnarbeit) verändern die Aktivität von Mediatoren (Hormonen, Rezeptoren, Ionenkanälen, Enzymen, Transkriptionsfaktoren (Proteine, die die Genaktivität steuern)). Was dabei herauskommt, ist eine angepasste Stressantwort, Zum Beispiel die vermehrte Produktion von Enzymen, die gegen oxidativen Stress helfen oder Chaperone, die fehlgefaltete und damit nicht mehr funktionsfähige Proteine wieder reparieren. Hat man davon mehr, kommt man besser mit Stress klar, der ja dazu führt, dass wichtige Zellbestandteile kaputt gehen.
Es ist wie ein großes Straßenfest, bei dem die Leute ordentlich Müll hinterlassen. Dann benötigen die Entsorgungsbetriebe mehr Aufwand, um die Gegend wieder reinzuhalten. Wenn sie dann schon weitere Müllautos gekauft und Personal eingestellt haben, weil die sonntäglichen Stadtbesucher es mit der Reinlichkeit auch nicht so genau nehmen, st das eine adaptive Stressantwort.
Chronisch ist der Stress, wenn sie nicht mal das kaputte Müllauto reparieren und die Stadt immer mehr zumüllt. Dann vermehrt sich Ungeziefer, Krankheiten verbreiten sich, keiner will mehr da wohnen und es entsteht eine Geisterstadt. In unserem Körper äußert sich das durch Zellalterung und Zelltod.
Adaptogene Wirkstoffe und Pflanzen
Pflanzen produzieren hunderte sekundäre Pflanzenstoffe, aber nur wenige wirken adaptogen. Im Prinzip gehören Adaptogene einer von drei Wirkstoffgruppen an:
- Verbindungen mit einem vierzyklischen Kohlenstoffgerüst, das dem des Cortisol gleicht.
- Strukturanaloge von Catecholaminen, das sind Botenstoffe, die aus der Aminosäure Tyrosin synthetisiert werden – Dopamin, Noradrenalin, Adrenalin.
- Strukturanaloge von Resolvin, einem Lipidmediator. Lipidmediatoren sind Signalmoleküle aus der Gruppe der Lipide (Fette), die als „Gewebshormone“ an vielen Stoffwechselprozessen beteiligt sind.
Die Wirkung der adaptogenen Pflanzenstoffe ist sehr unterschiedlich. Sie beeinflussen den Spiegel von Stickoxid, den Laktat, den Blutzucker und Cortisol ebenso wie das Plasmalipidprofil und die Leberenzyme. Das äußert sich im Detail in einer Stärkung von physischer und psychischer Leistungsfähigkeit und Gesundheit.
Typische, seit langem bekannte Adaptogene sind
- Ginseng (Panax ginseng, Araliaceae)
- Sibirischer Ginseng (Eleutherococcus senticosus,Araliaceae)
- Saflor-Bergscharte (Rhaponticum carthmoides, Asteraceae)
- Rosenwurz (Rhodiola rosea, Crassulaceae)
- Chinesisches Spaltkörbchen (Schisandra chinensis, Schisandraceae)
Man erkennt aber in immer mehr Pflanzen adaptogene Eigenschaften. Die Anzahl ist in den vergangenen Jahrzehnten rasant gestiegen.
Biochemie der Adaptogene
Adaptogene greifen viele verschiedene molekulare Ziele an und beeinflussen verschiedene Signalwege. Das ist in erster Linie die HPA-Achse (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse) die zwischen verschiedenen Geweben vermittelt und die Kommunikation innerhalb der Zelle durch die Aktivierung von Signalwegen der adaptiven Stressreaktion.
Die HPA Achse
Die HPA Achse ist ein hierarchisches endokrines System, dass die Stressantwort reguliert. Bei Stress schüttet zunächst der Hypothalamus im Gehirn Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH) frei. Das stimuliert die Hypophyse (Hirnanhangsdrüse) zur Freisetzung von Adrenocorticotropem Hormon (ACTH). In der Nebennierenrinde löst das wiederum die Freisetzung von Cortisol aus. Cortisol ist ein Stresshormon und die regulieren viele Körperfunktionen: Wachstum, Appetit, Blutdruck, Emotionen, Körpertemperatur, Biorhythmen, Wasserhaushalt.
Ziel ist es, die Homöostase zu erhalten, aber wenn ständig gegengelenkt wird um den Kurs zu erhalten, driftet man mit der Zeit eben doch ab.
Eine Hauptwirkung der Adaptogenen ist ein Eingriff in die HPA Achse. Die Wirkstoffe aus Ginseng binden zum Beispiel an die Rezeptoren der Stresshormone und setzen deren Aktivität in Gang. Das erzeugt den milden Stress, der dem Körper hilft, sich gegen starken Stress zu wehren.
Intrazelluläre Signalwege
Die moderneren Methoden der Molekularbiologie haben es ermöglicht, herauszufinden, wie weit der Einfluss der Adaptogene auf das Zellgeschehen reicht. Es hat sich herausgestellt, dass Adaptogene in die Genexpression eingreifen, also die Aktivität von Genen steuern und entscheiden, ob oder wie viel von einem Protein gebildet wird.
Eine Studie an isolierten Gehirnzellen zeigte, dass Adaptogene die Aktivität von mehr als 3500 Genen beeinflussen, und das mindestens 88 davon Signalwege beeinflussen, die mit der adaptiven Stressantwort zu tun haben.
Darunter sind unter anderem Neurohormone, Transkriptionsfaktoren (Proteine, die die Genaktivität steuern), Rezeptoren der Signalübertragung, Proteinkinasen, die die Aktivität anderer Proteine steuern, metabolische Enzyme. Wie es scheint haben Adaptogene überall ihre Finger im Spiel und ihre Wirkung geht weit über dein Einfluss auf die HPA Achse hinaus.
Eine Schlüsselrolle unter den Zielgenen spielt die Proteinkinase C (PKC), die von allen Adaptogenen hochreguliert wird. Dieses Enzym ist an 72 Signalwegen beteiligt. Eine weitere wichtige Rolle spielen die Proteinkinasen MAPK10 und MAPK13, die an 77 b.z.w. 58 Signalwegen beteiligt sind. Da kommt ganz schön was zusammen.
Wo ist der Haken?
Das klingt alles zu gut, um wahr zu sein. Die Wirksamkeit der Adaptogene ist durch unzählige klinische Studien belegt, wenn auch einige davon einer kritischen Prüfung aufgrund von Verfahrensfehlern nicht standhalten.
Es gilt aber als sicher, dass die Verwendung von Adaptogenen, wenn man sie sachgemäß einsetzt, tatsächlich unbedenklich ist. Die Wirksamkeit der Präparat hängt allerdings von vielen, individuellen Faktoren ab, wie Kulturbedingungen und Erntezeitpunkt.
Die Dosierung spielt auch eine Rolle. Bei niedriger Dosierung wirken Adaptogene als milde Stressmimetika, die den Bereich der Homöostase erweitern und eine erhöhte Resistenz gegen Stress vermitteln. Bei höheren Dosierungen können sie entzündungshemmend wirken. Und weil Entzündungen die Wurzel allen Übels sind, können sie so vorzeitiges Altern verzögern und uns lange gesund und vital halten. Die Wirkung tritt allerdings nicht sofort ein, sondern erst nach einer gewissen Einnahmedauer. Fragt am besten euren Arzt.
wichtiger Hinweis: Hier geht es um das Wunder der Natur und die Freude am Wissen, aber keinesfalls um medizinische Beratung.
Quellen:
Panossian, A. G., Efferth, T., Shikov, A. N., Pozharitskaya, O. N., Kuchta, K., Mukherjee, P. K., Banerjee, S., Heinrich, M., Wu, W., Guo, D. A., & Wagner, H. (2021). Evolution of the adaptogenic concept from traditional use to medical systems: Pharmacology of stress- and aging-related diseases. Medicinal research reviews, 41(1), 630–703. https://doi.org/10.1002/med.21743
Panossian, A., & Wikman, G. (2010). Effects of Adaptogens on the Central Nervous System and the Molecular Mechanisms Associated with Their Stress-Protective Activity. Pharmaceuticals (Basel, Switzerland), 3(1), 188–224. https://doi.org/10.3390/ph3010188